Ich war vorgewarnt. Wie sagte doch Hagen Rether über Essen: „Wenn so Essen aussieht, wie sieht dann erst kotzen aus.“ Nicht das ich Hagen Rether glauben würde, aber Essen hat nun nicht den Ruf ein Schmuckkästchen zu sein. Als es mich vor ein paar Wochen dann in der Nähe des Ruhrgebiet verschlagen hatte, wollte ich mir die Kulturhauptstadt 2010 nicht entgehen lassen. Nun nehmen an der „RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europa“ alle Städte des Ruhrgebietes teil, also Alpen, Bergkamen, Bochum, Bönen, Bottrop, Breckerfeld, Castrop-Rauxel, Datteln, Dinslaken, Dorsten, Dortmund, Duisburg, Ennepetal, Erkenschwick, Essen, Fröndenberg, Gelsenkirchen, Gevelsberg, Gladbeck, Hagen, Haltern am See, Hamm, Hamminkeln, Hattingen, Heiligenhaus, Herdecke, Herne, Herten, Holzwickede, Hünxe, Kamen, Kamp-Lintfort, Marl, Moers, Mülheim an der Ruhr, Neukirchen-Vluyn, Oberhausen, Recklinghausen, Rheinberg, Schermbeck, Schwelm, Schwerte, Selm, Sonsbeck, Sprockhövel, Unna, Voerde, Waltrop, Werne, Wesel, Wetter, Witten, Xanten. Ich hatte also die große Auswahl bei einem einzigen zur Verfügung stehenden Tag. Ich entschied mich spontan für Essen. Warum? – Ich kann es nicht genau sagen. Irgendwie hat sie mich angezogen.
Meine erste Station in Essen war die Zeche Zollverein. Die Zeche Zollverein war ein von 1847 bis 1986 aktives Steinkohlebergwerk. Heute ist sie ein Industriedenkmal und gehört gemeinsam mit der unmittelbar benachbarten Kokerei Zollverein zum Weltkulturerbe der UNESCO. Die Sonne scheint wunderschön an diesem Tag und ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben eine Zeche. Ich laufe auf dem weiträumigen Gelände dieser Industrieruine und versuche mir den geschäftigen Betrieb vorzustellen. Über 100 Jahre arbeiteten hier tausende von Menschen und förderten Kohle. Nun ist es ruhig. Die Ressourcen der Natur sind endlich! Essen war mit einem wichtigen Rohstoff gesegnet und hat davon profitiert. Nun muss es ohne zurecht kommen. Die Zeche Zollverein ist daher ein nachdenklicher Ort.
Danach machte ich mich auf in die Innensadt. Mit einer Bekannten lief ich betend durch die Ruhr- Metropole. Fragen gingen mir durch den Kopf: Wie muss es Essen wohl nach dem Niedergang des Bergbaus ergangen sein? Viele werden sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit gestellt haben. Während ich noch nachdenke sehe ich auf einem großen Platz einige hundert Kinder. Essen veranstaltete an diesem Tag ein buntes Kinderfest. Luftballons steigen in den Himmel auf. Und während junge Künstler ihre Talente zeigen festigt sich in mir die Hoffnung, dass wer für Kinder da ist, Zukunft hat!
Wir laufen weiter und besichtigen ein paar Kirchen. In der evangelischen Kirche verweilen wir ein wenig. Einige Christen haben sich zum Innehalten versammelt. „Zeit des Meisters“ nennen sie ihr Treffen – ein Angebot für spirituell Kreative. Ein offener sakraler Raum mitten in der Stadt, mitten im Leben, oder auch auffindbar am Rand der Stadt. Ein Erfahrungsraum für Gebet, Meditation und Stille. Eine Kirche, eine Kapelle, die ein Dach für die Seele bietet. Ein Ort, der eine Insel der Ruhe ist. Gelegenheit, innezuhalten, nach innen zu sehen, Heiligem nachzuspüren. Einfach herrlich – die Atmosphäre!
An Hagen Rethers Witz muss ich schon lange nicht mehr denken. Ich bin überrascht von Essen. Multi-Kulti, Künstler, Bettler, spirituell Kreative, Reiche – unterschiedlichste Menschen nehme ich hier wahr und spüre, dass Essen bei allen Herausforderungen in die Zukunft blickt.
Unsere letzte Station führte mich zur Villa Hügel. Man glaubt gar nicht mehr in Essen zu sein. Mitten im Grünen ließ Alfred Krupp 1873, das heute ehemalige Wohn- und Repräsentationshaus der Industriellenfamilie Krupp errichten. Die Villa hat 269 Räume, 8100 m² Wohn- und Nutzfläche und liegt in einem 28 Hektar großen Park an einer wunderschönen Stelle. Die Bezeichnung Villa halte ich für deutlich untertrieben. Was sich hier meinen Augen zeigt ist eine Schloßanlage. Die Industriellen waren die Könige der Neuzeit und leisteten sich ähnliche Prunkbauten. Ich bin wieder mal geplättet von den gigantischen Ausmaßen eines Hauses, das für die Krupps schlicht ihre Wohnung war. Wer’s hat.