Bekanntlich hat Jesus in vielen Fällen nicht moralisch argumentiert, sondern stattdessen eine Geschichte erzählt wie z.B. mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Lukas 10,29-37: „Indem er aber sich selbst rechtfertigen wollte, sprach er zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Jesus aber nahm das Wort und sprach: Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halbtot liegen ließen. Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und er sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. Aber ein Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt; und er trat hinzu und verband seine Wunden und goß Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn. Und am folgenden Morgen zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt und sprach: Trage Sorge für ihn! Und was du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme. Was meinst du, wer von diesen dreien der Nächste dessen gewesen ist, der unter die Räuber gefallen war? Er aber sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm übte. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin und handle du ebenso!“ (rev. Elberfelder Übersetzung)
Dieses Gleichnis ist nun aber nicht einfach ein narratives, erklärendes Beispiel mit einem Motto (jeder ist dein Nächster) oder einer Argumentationskette (In diesem Fall könnte sie lauten: Oftmals wird der Nächste mit einem Volksgenossen definiert – es gibt nun aber Situationen, in denen sich der ungläubige bzw. irrgläubige Mischling und nicht der gläubige Volksgenosse als Nächster bewährt – es braucht also eine umfassendere Definition eines Nächsten – jeder ist der Nächste.). Mit dieser Übersetzung des Gleichnisses in eine ein Motto oder einer begrifflichen Argumentationskette verliert es seine authentische poetische Prägnanz und Wirkung. Interssanterweise fragt Jesus nicht wer der Nächste (passiv) ist, sondern wer sich als Nächster erwiesen hat (aktiv/ Lk 10,36). Der entscheidende Punkt dieses Gleichnisses ist wie Dieter Mieth feststellt also „nicht eine Definition des Nächsten als Objekt der Nächstenliebe, sondern die Wendung der Frage zum Subjekt der Nächstenliebe.“ Die Frage nach einer Definition des Nächsten ist im Prinzip eine rein akademische und überflüssig. Der Samariter fragt nicht nach Definitionen, sondern lässt sich von der augenscheinlichen Not ansprechen und hilft. Durch die Erzählung ruft Jesus also zur Aktion. Jesus ist an einem aktiven Modell des Nächsten interessiert und nicht an Definitionen. Das Gleichnis ist zwar ein konkretes Beispiel, das zur Illustration dient. Jesus hat es aber so erzählt, dass sich dadurch etwas ändert. Narrative Wertevermittlung erklärt nicht nur, sondern (richtig erzählt) fordert sie in erster Linie zur aktiven Tat.