Das ist der vierte Teil meiner Serie über die Geschichte vom verlorenen Sohn. Ich gehe darin besonders auf die kulturellen Hindergründe und den Kontext der Geschichte ein. Im ersten Teil ging es um die Vorgeschichte. Im zweiten und drittenTeil gehe ich auf die zwei Geschichten ein, die Jesus unmittelbar vor der Geschichte des verloren Sohnes erzählt und mit dieser verknüpft ist.
Die dritte Geschichte
11 Er sprach aber: Ein Mensch hatte zwei Söhne;
Mit diesem einleitenden Satz beginnt Jesus die dritte Geschichte und kommt damit zum Höhepunkt. Im ersten Satz nennt er alle drei Beteiligten: der Vater, Sohn 1 und Sohn 2. Traditionel lwird vom Gleichnis vom verlorenen Sohn gesprochen. Doch damit wird man der Geschichte nicht gerecht, schließlich geht es um zwei Söhne. Deshalb würde ich lieber vom Gleichnis der zwei Söhne sprechen. In der Geschichte stehen die Beziehungen der drei Beteiligten im Mittelpunkt. Daher müssen wir sie genau anschauen, um am Ende zu verstehen warum jeder handelt wie er handelt.
12 und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt! Und er teilte ihnen die Habe.
Der jüngere Sohn wendet sich mit einer gelinde gesagt unverschämten Forderung an den Vater. Eine solche Bitte bedeutete nicht anderes, dass der jüngere Sohn ungeduldig auf den Tod seines Vaters wartete. Am liebsten wäre ihm gewesen, wenn er schon tot wäre, denn dann hätte sich sein Anliegen schon lange erfüllt. Das Vermögen des Vaters wird normalerweise erst an seinem Lebensende aufgeteilt (vgl. 1Mo 25,5-8 und 1Mo 48-49). Es war aber auch möglich, dass der Vater das Erbe vor seinem Tod aufteilte. Dafür gab es spezielle juristische Bestimmungen. Der Erbe/die Erben erhielten dann das gesetzliche Eigentumsrecht. Allerdings noch nicht das Verkaufsrecht. Der Besitz gehörte ihnen dann zwar schon, aber er wurde immer noch vom Vater verwaltet. Daher sagt der Vater am Ende der Geschichte auch zu seinem älteren Sohn: „Alles was mein ist, ist auch dein.“ Dem älteren Sohn gehörte rechtlich alles was auch dem Vater gehörte. Streng genommen war es sein Eigentum. Wobei der Vater immer noch das Recht hatte das Eigentum seines Sohnes zu gebrauchen und z. B. ein Kalb für eine Party zu schlachten. Der jüngere Sohn fragte seinen Vater nach dem Eigentums- und Verkaufsrecht und bekommt es tatsächlich. Beide Verhalten sind in dieser Kultur ungeheuerlich. Ein absolutes No-Go! Niemals würde ein Sohn auf die Idee kommen seinen Vater nach dem Erbe zu fragen und wenn er es tatsächlich macht, würde der Vater es ihm nie geben. Beide Verhalten lösten bei den Zuhöreren Fassungslosigkeit aus. Wie kann ein Sohn nur auf die Idee kommen seinem Vater eine solche Frage zu stellen? Wie kann der Vater diese Ungeheuerlichkeit dulden und dem Sohn sein Vermögen geben?
„Und er teilte ihnen die Habe.“ Im Zuge der Bitte des jüngeren Sohnes klärt der Vater alle Erbangelegenheiten. Nicht nur der jüngere Sohn bekommt seinen Anteil auch der ältere Sohn bekommt sein Erbe. Allerdings fordert dieser nicht das Verkaufsrecht.
Schauen wir uns die drei beteiligten Personen gleich mal näher an:
Der jüngere Sohn
1. Die Bitte zeigt seine Auflehnung gegen seinen Vater. Er will, dass er nicht mehr existiert. Wie er befindet sich auch die Menschheit in einer Art Auflehnung gegen Gott. Sünde will letztlich den Tod des Vaters/Schöpfers.
2. Er denkt egoistisch. Es geht ihm nur um sich. Er will weg, er will das Geld, basta. Wie er damit seinen Vater verletzt und seine Familie bloß stellt spielt für ihn keine Rolle.
3. Prinzipiell war es möglich seinen Erbanteil vor dem Tod seines Vaters zu bekommen. Der Anteil des jüngeren Sohnes betrug ein Drittel (vgl. 2 Mo 21,17). Es wird nicht gesagt, dass der Sohn den Tod seines Vaters abwarten muss. Der Sohn hat kein Gesetz übertreten, wohl aber die kulturelle Einstellung und, und das ist das entscheidende, die Beziehung zum Vater zerstört.
4. Durch die Erbauszahlung ist die gesamte Großfamilie betroffen. Der Reichtum der Großfamilie, den alle zusammen durch harte Arbeit erwirtschaftet haben, bestand aus Land, Vieh und Häusern und war nicht wie heute in Aktien und anderen Geldanlagen angelegt. Ein Drittel dieses Vermögen auf einmal zu verlieren war ein großer Verlust, der alle traf. Dem jüngeren Sohn waren diese Konsequenzen bewusst, aber er nahm darauf keine Rücksicht.
5. Es ist keine Dankbarkeit für das ungewöhnliche Entgegenkommen des Vaters zu spüren.
6. Er übernimmt keine Verantwortung für sein Erbteil. Wer sein Erbe annimmt, nimmt damit auch seine verantwortliche Position in der Großfamilie an. Er hat die Pflicht die Familie zu versorgen, den Reichtum zu vermehren und die Ehre der Familie zu verteidigen. Außerdem muss er die Familie bei Festivitäten würdig vertreten. Der Sohn macht genau das Gegenteil! Er verkauft alles und haut ab. Er nimmt seine Privilegien in Anspruch ohne die Verantwortung zu übernehmen.
7. Er trennt sich von seiner Familie und damit von seinen Wurzeln. Die Familie hatte damals eine sehr viel wichtigere Bedeutung als in unserer individualisierten Gesellschaft. Die Sicherheit eines Menschen lag in seiner Familie. Familie bedeutete für einen Menschen soziale Versicherung, Altersversorgung, Schutz und seelisches Wohlbefinden. Ebenso trennt er sich von seinem Dorf und damit seiner Heimat. Alles das wirft er weg und zieht als Vagabund von dannen. Ein Vagabund genießt wenig Vertrauen in der Bevölkerung. Oder jemanden als Vagabunden oder als jemand ohne Wurzeln zu bezeichnen ist eine große Beleidigung. Übertragen gesehen bietet auch die Familie Gottes jedem Mitglied dieselbe Sicherheit wie die Großfamilie der damaligen Zeit.
8. Er weigert sich, seinen Erbteil mit dem Vater gemeinsam zu besitzen (Eigentumsrecht). Er will allein über das Geld verfügen (Kaufrecht). Er will seinen Teil unabhängig von seinem Vater verwalten.
9. Er ist voll verantwortlich. Er hat diese Entscheidung ganz bewusst getroffen. Das Schaf (erste Geschichte) konnte sich aufgrund seines schlechteren Orientierungssinns verlaufen und die Münze (zweite Geschichte) ist ein lebloser Gegenstand, aber für den Sohn gelten diese Gründe nicht.
Der ältere Sohn
1. Er hat mich Sicherheit alles mitbekommen. In der dörflichen Struktur des Nahen Osten bekommt jeder alles mit. Auch die Details wird er gewusst haben.
2. Er mischt sich nicht in den Konflikt seines Vaters mit seinem Bruder ein. Bei einem Streit gibt es immer die Möglichkeit der Klärung und Versöhnung. In dieser schamorientierten Kultur werden die beiden direkt betroffenen Parteien sich nie allein versöhnen, denn das würde zu einem Gesichtsverlust führen. Man kann nicht voreinander zugeben einen Fehler gemacht zu haben. Deshalb braucht es einen Vermittler (Mediator). Der Mediator pendelt zwischen beiden Seiten, redet mit ihnen und verhandelt eine Lösung, die beide akzeptieren können. Es darf dabei keine Verlierer oder Gewinner geben. Auf diese Weise findet Konfliktlösung in dieser Kultur statt. Vom älteren Bruder würde unausgesprochen erwartet zwischen seinem Vater und seinem Bruder zu vermitteln. Er wäre der perfekte Mediator gewesen, der von beiden akzeptiert worden wäre. Doch er weigert sich diese Rolle einzunehmen. Somit übernimmt er an dieser Stelle keine Verantwortung für die Gemeinschaft. Es zeigt sich, dass auch seine Beziehung zum Vater gestört ist.
3. Seine Verweigerung kann darauf hindeuten, dass es um die Beziehung der Geschwister auch nicht gut bestellt war. Er wird froh gewesen sein, dass sein kleiner Bruder endlich die Fliege macht. Er wäre dann mit ein Grund, warum der Jüngere die Familie verlassen hat. Im Osten wird das Alter geehrt. Der Ältere hatte aufgrund seines Alters besondere Privilegien. Die führten zu Arroganz. Vielleicht hat das mit dazu beigetragen, dass die Brüderbeziehung schon vor dem von Jesus geschilderten Vorfall angespannt war.
4. Er hat seinen Bruder nicht vom Gehen abgehalten. Er hat ihn nicht versucht vom Bleiben zu überzeugen und ihn vor den Gefahren einer Reise gewarnt. Nichts dergleichen ist zu lesen.
Der Vater
Die Reaktion des Vaters ist völlig überraschend. Anstatt Verweigerung und Strafe gibt er seinem Sohn um was er bittet. Wohl wissend was die Bitte bedeutet, lässt er seinem Sohn seinen Willen. Und er bricht die Beziehung nicht ganz ab. Keine Reaktion deutet darauf hin, dass der Sohn für ihn damit gestorben ist. Gott ist nicht wie ein orientalischer Patriarch. Trotz der Schande, die ihm sein Sohn bereitet, bricht er nicht mit ihm.
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