Leben mit dem Kirchenjahr

Meine Zeiteinteilung

Wie soll ich meine Zeit einteilen? Welche Prioritäten setze ich? Was bekommt wie viel Gewicht? Diese Fragen kommen mir während ich über meinem Terminkalender für das nächste Jahr sitze. Es ist Zeit für die Jahresplanung.

Wenn wir ehrlich sind, dann ist unser Leben stark von den jährlichen Urlaubszeiten geprägt. Im Winter geht es in die Sportferien. Im Sommer machen wir eine kurze Sommerpause. Im Herbst geht es zwei Wochen in den Süden. Zwischen Weihnachten und Neujahr ist Zeit die Familie zu besuchen. Dazwischen verdienen wir u. a. das Geld, um uns eben diesen jährlichen Rhythmus zu finanzieren. Und wir feiern Feste z. B. am 1. August die Schweiz mit Fondue, einem Glas Wein und Feuerwerk. Bei mir kommen noch sportliche Grosveranstaltungen hinzu, die ihren festen Platz bekommen. Dies gibt einen kleinen Einblick wem ich Bedeutung schenke.

Jeder Mensch gibt der Zeit Bedeutung und erzählt damit eine Geschichte. Welche Geschichte der Mensch letztlich erzählt definiert ihn und erklärt wer er ist. Wenn du am Abend des 1. August ein grosses Feuerwerk erwartet bist du wohl ein Schweizer. Wenn du am 3. Oktober frei hast lebst du in Deutschland. Wenn du am 11.11 eine Minute schweigst befindest du dich in England usw. Die Bedeutung der Zeit zeigt sich auch am Jahreskalender.

Der Jahreskalender schafft Kultur

Der griechische Kalender erzählt die Geschichte der Griechen.

Der römische Kalender erzählt die Geschichte der Römer.

Der jüdische Kalender erzählt die Geschichte der Juden.

Der islamische Kalender erzählt die Geschichte der Moslems.

Der christliche Kalender erzählt die Geschichte von Jesus.

Der säkulare Kalender erzählt dagegen, dass es keine verbindliche Geschichte gibt – ausser etwas Politik und viel Kommerz (oder anders herum).

Welcher Kalender prägt dich?

Vor 2000 Jahren hatte die Kirche die Weisheit die Zeit mit der Geschichte von Jesus zu verbinden. Das Kirchenjahr wurde kreiert. Der Advent wartet auf die Wiederkunft Jesu. Weihnachten feiert die Geburt Jesu. Epiphanias betont die Erscheinung Gottes im Leben und Wirken Jesu offenbart wurde. Die Passionszeit erinnert uns an den Weg Jesu ans Kreuz. Ostern ist die Feier seiner Auferstehung. Pfingsten markiert die Erfüllung mit den Heiligen Geist und die Geburt der Kirche. Und schliesslich die gewöhnliche Zeit, die uns durch den Rest des Jahres bis in den Advent begleitet.

Welcher Kalender prägt dich? Ich will mich dem säkularen Blick auf das Jahr nicht ganz hingeben. Zumindest etwas Widerstand leisten würde mir und uns gut tun. Ich will, dass mein Leben – meine Zeit – durch die Geschichte von Jesus geformt wird und nicht durch die Säkularisierung. Um gegen den Strom unserer Zeit zu schwimmen müssen wir zur kirchlichen Tradition des Kirchenjahrs zurückkehren. Für mich ist er zu einer Art Rebellion gegen die Kultur unserer Zeit geworden. Wer rebelliert mit?

«Ich bin ein introvertierter Pfarrer»

Sind Sie ein ruhiger, nach innen gekehrter Typ? Dies ist Ihre Chance!

Kennen Sie das Gefühl, dass Ihre Persönlichkeit Ihnen in bestimmten Situationen im Weg steht? In bestimmten Momenten hätten Sie s einfacher, wenn Sie nur anders «gestrickt» wären. Ich kenne solche Gedanken. Ich bin introvertiert. Für die Arbeit als Pfarrer ist das nicht immer hilfreich – so zumindest fühlte sich das für mich lange an.

Nach innen gewandt
Der Introvertiertheit steht die Extrovertiertheit gegenüber. Introvertiert bedeutet wörtlich «nach innen gewandt», während extrovertiert «nach aussen gewandt» meint. Der Unterschied zwischen beiden Persönlichkeitsmerkmalen liegt im Kopf. Während der Introvertierte sein Leben überwiegend innerlich bewältigt, trägt der Extrovertierte sein Herz auf der Zunge. Er lässt das Umfeld an seinem Innenleben teilhaben, wogegen der Introvertierte für sich im Vorborgenen nachdenkt. Daher werden Extrovertierte als gesellig, offen und abenteuerlustig wahrgenommen, Introvertierte als ruhig, in sich gekehrt und etwas geheimnisvoll – und deshalb auch schwerer einzuordnen.

Abtauchen
Frei auf Leute zugehen, sie mit seiner offenen Art begeistern und mitziehen – das ist es doch,  was es als Pfarrer braucht? Bestimmt viel mehr als den stillen, tiefsinnigen und scheinbar unbeteiligten Denker?

Debora Sommer vergleicht in ihrem Buch «Die leisen Weltveränderer» Introvertierte mit einem U-Boot. Sie tauchen gerne ab und fühlen sich in der Einsamkeit der Meerestiefe wohl. Extrovertierte können mit einem Schiff verglichen werden. Ihr Leben findet gut sichtbar auf der Wasseroberfläche statt. Dort haben sie den Überblick und können mit anderen Schiffen Kontakt aufnehmen.

Kloster statt Konferenz

Ich gleiche einem solchen U-Boot. Ich brauche den Rückzug. In einer Gruppe bin ich unbeteiligt. Ich kann mir sehr, sehr viele Gedanken machen, bin zögerlich, selbstkritisch, zweifelnd, überfordert unter Druck. Ich lasse mir Zeit mit Entscheidungen. Hadernd bewege ich mich hin und her, um langsam vorwärts zu gehen. Ich werde leicht übersehen – weil ich nicht laut genug bin. Ich gehe nicht gerne auf Konferenzen – viel lieber bin ich im Kloster. Nach einer Konferenz habe ich kein Tief, sondern ein Hoch, denn ich bin endlich wieder für mich. Bestimmte offensive Formen von Evangelisation lösen in mir eine Defensivhaltung aus. So bin ich – und daher schreibe ich den Artikel, wie ich ihn schreibe: auf introvertierte Art.

Kreativer Querdenker

Doch zeichnet mich meine Art aus. Ich bin ein tiefgründiger Mensch. Wenn ich etwas sage, hat es Substanz. Ich gebe mich nicht mit der erstbesten Antwort zufrieden. Ich bin ein aufmerksamer Beobachter. Ich habe eine aussergewöhnliche Vorstellungskraft, die mir hilft, kreativ und quer zu denken. Ich bin behutsam, sensibel und beharrlich. Ich kann den Ruhetag ruhig begehen. Ich trage die grosse Sehnsucht nach Tiefe in der Gottesbeziehung in mir. Ich bin belesen und bilde mich fort. Ich kann Marathon. Wenn ich so darüber nachdenke, muss ich erkennen: Introversion ist keine Unzulänglichkeit. Es ist auch kein Mangel, sondern –bei gesundem Umgang – meine Stärke, auch und gerade als Pfarrer.

Als Pfarrer habe ich eine Rolle auszufüllen mit sehr viel sozialer Interaktion. Teils herausfordernd und gleichzeitig fordert es mich auf gute Weise heraus, mich zu zeigen und sichtbar zu werden. Und dann bekomme ich erstaunte Kommentare: «Was, du bist richtig leidenschaftlich, wenn du predigst! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.» Daher, liebe Menschheit: «Unterschätzt mich nicht. Ich bin ein Weltveränderer – ein leiser Weltveränderer!»

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 10/2019 von Wort+Wärch abgedruckt.